Rund sechs Prozent aller Kinder sind von ADHS betroffen. ADHS kann sich jedoch sehr unterschiedlich äußern. Die Übergänge zwischen Persönlichkeitsvariante und Erkrankung sind fließend. Über ADHS hört man viele Hypothesen, Meinungen und Kommentare: Ist es eine Modediagnose? Stellt es nur eine normale Variante der Persönlichkeit dar? Ist es eine psychische Erkrankung? Spielen eher Umweltfaktoren, Vererbung oder doch die Erziehung eine tragende Rolle bei der Entstehung? Die Antworten gehen auseinander, je nachdem ob man hier Psychologen, Ärzte oder Alternativmediziner befragt.
Einig sind sich fast alle darin, dass die Grenzen zwischen ADHS und normalen Facetten der Persönlichkeit fließend sind. Je nach Ausprägung der Symptome kann sich ADHS gemäßigt äußern oder zu großen sozialen und psychischen Problemen führen. Hier erfährst du, wie ADHS definiert ist, wie es sich im Alltag äußern kann und wo Experten die Grenzen zu behandlungsbedürftigem ADHS ziehen.
Inhaltsverzeichnis
Was ist die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung? ADHS und ADS
ADHS bedeutet Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Die Bezeichnung enthält schon zwei Hauptsymptome, die ADHS häufig kennzeichnen: Die schnelle Ablenkbarkeit und die Unruhe. Mit der Bezeichnung ADS (Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom) wird eine ADHS-Variante ohne Hyperaktivität bezeichnet. Um die fehlende Hyperaktivität und die dadurch etwas anders aussehenden Symptome zu betonen, sprechen Betroffene und manche Experten von ADS. Kinder mit ADS wirken zum Beispiel nicht zappelig und unruhig, sondern eher in sich gekehrt, schüchtern, verträumt und leben in ihrer ganz eigenen Gedankenwelt.
Definition
Mediziner sprechen vom ADHS-Syndrom, wenn zwei Faktoren erfüllt sind 1). Zum einen muss unaufmerksames und impulsives Verhalten über einen Zeitraum von mehr als sechs Monaten vorliegen und schon im Alter von sieben Jahren oder jünger aufgetreten sein. Oft (aber nicht immer) kommt Hyperaktivität hinzu. Zum anderen muss für die Diagnose ADHS gelten, dass dieses Verhalten das Kind oder den Erwachsenen in seinem Alltag beeinträchtigt.
Das kann der Fall sein, wenn dadurch Sozialkontakte erschwert sind oder die Leistung in der Schule oder im Job leidet. Um die Diagnose ADHS zu stellen, muss außerdem ausgeschlossen sein, dass die Symptome durch andere Störungen verursacht werden, zum Beispiel durch Autismus oder eine Psychose. Studien zeigen, dass in Deutschland im Schnitt rund sechs Prozent aller Kinder zwischen sechs und zehn Jahren nach der oben genannten Definition ADHS haben 1). Jungen sind zwei- bis dreimal häufiger betroffen als Mädchen.
Was ist die Ursache von ADHS?
Über die Ursachen von ADHS gibt es verschiedene Theorien. Experten gehen davon aus, dass fast immer genetische Faktoren sowie verschiedene Umweltfaktoren zusammenspielen 2. Viele Faktoren tragen ihren Teil zur Entstehung oder zur genauen Ausprägung von ADHS bei. Darum kann ADHS bei verschiedenen Menschen auch sehr unterschiedlich aussehen.
Neben einer vermuteten genetischen Veranlagung könnten Drogen- und Nikotinkonsum während der Schwangerschaft, Geburtskomplikationen, eine veränderte Gehirnstruktur und Besonderheiten bei den Botenstoffen im Gehirn eine Rolle bei der Entstehung von ADHS spielen. Weitere Punkte könnten den Verlauf von ADHS beeinflussen, zum Beispiel ein starker Medien- und Fernsehkonsum, Großstadtleben ohne Möglichkeiten zum Toben und Spielen oder der Erziehungsstil.
In Deutschland stieg die Zahl der ADHS-Diagnosen bei Kindern in den letzten 20 Jahren um mehr als das Dreifache. Für diesen Anstieg kann nicht die Genetik verantwortlich gemacht werden – es scheint die veränderte Lebensweise der Kinder maßgeblich zu sein. Der Verbrauch von Medikamenten zur Behandlung stieg parallel dazu ebenfalls um ein Vielfaches. Dieser Umstand regt verständlicherweise zu großen Diskussionen an.
Der bekannte Gehirnforscher Prof. Gerald Hüther sieht eine Hauptursache für die Ausprägung von ADHS-Symptomen darin, dass den betroffenen Kindern die Erfahrung des Gefühls der Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen durch „shared attention“ (geteilte Aufmerksamkeit) fehlt. Diese Fähigkeit zu geteilter Aufmerksamkeit entsteht, wenn Kinder gemeinsam mit jemand anderem etwas gestalten, sich gemeinsam auf etwas freuen, ein gemeinsames Ziel verfolgen, sich gemeinsam um etwas kümmern oder gemeinsam etwas betrachten.
Es geht also darum, gemeinsam auf dasselbe „Dritte“ zu schauen, mit demselben Interesse und derselben Freude. Das kann z.B. das gemeinsame Anschauen eines Bilderbuchs sein, das Beobachten eines Tieres oder später das Kümmern um ein Tier und so weiter.
Kinder, die diese Erfahrung ausreichend oft mit den Eltern, Geschwistern etc. gemacht haben, können sich später leicht mit anderen auf etwas Gemeinsames einlassen und ihre Impulse kontrollieren. Laut Prof. Hüther sollten Familien wieder mehr Wert auf gemeinsame Projekte legen. Wenn das verabsäumt wurde, müsste es mit psychotherapeutischen oder pädagogischen Maßnahmen nachgeholt werden. Und zwar nicht als individuelles Aufmerksamkeitstraining, sondern als Hilfe beim Erwerb der wichtigen sozialen Erfahrungen von geteilter Aufmerksamkeit 3.
ADHS Anzeichen
Zu ADHS gehören drei Hauptsymptome: Aufmerksamkeitsstörung, Hyperaktivität und Impulsivität. Je nach Alter kann sich das unterschiedlich äußern. Hier findest du Beispiele für typische Verhaltensweisen von Kindern und Erwachsenen, die ADHS (mit Hyperaktivität) haben. Je nach Ausprägung können dadurch größere Probleme in der Schule, im Beruf und im Privatleben entstehen. Woher weiß ich, ob ich ADHS habe?
Kinder mit ADHS: Zappeln herum, können schlecht still sitzen und gelten oft als „Störer“ in der Klasse. Oft kippeln sie mit dem Stuhl hin und her, wackeln oder klopfen mit dem Fuß oder spielen mit Gegenständen herum. Sie tun sich schwer, andere ausreden zu lassen und platzen mit Antworten heraus. Sie wirken oft wild und sind oft körperlich (über)aktiv, springen, rennen und klettern. Auch an Orten oder in Situationen, wo dies störend und nicht angebracht ist. Natürlich tun das alle Kinder hin und wieder. Typisch für ADHS ist aber, dass es sehr exzessiv auftritt und Verbote nichts nutzen, weil das Kind das Verhalten nicht selbst kontrollieren kann.
Die Kinder tun sich schwer, Anweisungen von Eltern und Lehrer anzuhören und vollständig umzusetzen. Sie mischen sich manchmal in fremde Gespräche ein, können schlecht zuhören, wirken laut, gestikulieren ausschweifend und reden oft viel und durcheinander. Die Frustrationstoleranz ist oft gering. Es kann zu Trotzreaktionen und Wutanfällen kommen.
Zum Teil zeigt sich ADHS schon im Säuglingsalter an langen Schreiphasen und Unruhe. Manchmal lehnen die Babys Körperkontakt ab, haben Probleme beim Essen oder beim Schlafen.
ADHS im Erwachsenenalter: Betroffene können schlecht stillsitzen oder warten. Manche Menschen mit ADHS wackeln mit dem Fuß, tippen mit den Fingern auf den Tisch oder zeigen andere nervöse, unruhige Verhaltensweisen. Sie sind beim Anstellen in einer Schlange (Supermarkt) oder bei beruflichen Meetings und Vorträgen oft (innerlich oder auch äußerlich) unruhig. Manchmal ist ruhiges Warten sogar gänzlich unmöglich.
Erwachsene mit ADHS neigen dazu, andere Menschen im Gespräch zu unterbrechen, überhören Details, springen von Thema zu Thema oder machen unpassende Anmerkungen. Oft fahren sie zu schnell Auto. Menschen mit ADHS wirken auf andere manchmal genervt, gelangweilt oder unaufmerksam, weil sie nicht richtig zuhören, abgelenkt sind, Anweisungen nicht vollständig umsetzen oder Aufgaben nicht (oder nur widerwillig) zu Ende bringen.
Manchmal entstehen bei Jugendlichen und Erwachsenen Ängste, Depressionen, ein vermindertes Selbstwertgefühl oder aggressives Verhalten. Bei schweren ADHS-Fällen sind das Abrutschen in die Kriminalität und Suizidversuche sehr viel häufiger als bei Gesunden.
Zwischen Persönlichkeitsvariante und Krankheit
Ganz wichtig ist jedoch: Die oben genannten Verhaltensweisen hängen nicht immer mit ADHS zusammen. Im Gegenteil, denn jedes normale und gesunde Kind ist je nach Charakter mehr oder weniger unaufmerksam, wild, überdreht oder hört nicht richtig zu. Viele Erwachsene finden es schwierig, an der Supermarktkasse ruhig zu warten.
Die Übergänge von einer Variante der Persönlichkeit zu ADHS sind fließend. Ab einem bestimmten Punkt wird es jedoch kritisch. Eine Grenze ist in jedem Fall überschritten, wenn Betroffene (und bei Kindern auch die Eltern) dadurch im Alltag stark eingeschränkt sind, zum Beispiel wenn das Kind keine Freunde findet, zum Außenseiter wird, gemobbt wird oder sich den Unterrichtsstoff nicht aneignen kann.
Ist ADHS also eine Krankheit? Selbst Ärzte tun sich hier schwer, das eindeutig festzulegen. Die WHO gibt als Definition von Gesundheit jedoch an, dass dazu „vollständiges körperliches, geistiges und soziales Wohlergehen“ gehört. Ist das durch ADHS nicht mehr der Fall, sind therapeutische Maßnahmen in jedem Fall angebracht. Auch im Hinblick darauf, dass ADHS im Jugend- und Erwachsenenalter zu Depressionen und Angsterkrankungen führen kann und das Risiko für kriminelle Handlungen sowie die Suchtgefahr (Alkohol, Drogen) erhöht.
Zum Teil deshalb, weil Betroffene sich ohne Behandlung und spezielle Förderung manchmal schwertun, mit dem normalen Alltag, so wie andere Menschen ihn leben, zurechtzukommen.
Die positiven Seiten der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung
Jetzt haben wir viel über das Negative gesprochen. Doch ADHS kann auch schöne Seiten haben. Kinder und Erwachsene mit ADHS haben eine sehr ausgeprägte Persönlichkeit, die auch viele positive Eigenschaften beinhaltet. Ich kann hier aus eigener Erfahrung im Bekanntenkreis sagen, dass der von ADHS betroffene Sohn von Freunden ein absolut außergewöhnliches Kind ist. Er ist sehr sensibel, tierlieb, naturverbunden und kreativ.
Und er hat ein feines und für Kinder außergewöhnliches Gespür für Farben. Er sagt Dinge wie: „Du hast eine neue Haarfarbe, die ist wirklich schön.“ (stimmt, nur ist das niemandem sonst aufgefallen, da der Farbton nur leicht anders ist). Er ist selbstlos, hilfsbereit, hat einen sehr ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und hilft Schwächeren.
Generell sind Kinder mit ADHS oft sehr liebenswert, fröhlich, begeisterungsfähig, witzig und aufgeweckt. Sie interessieren sich für alles und sind hilfsbereit, liebevoll und selten nachtragend. Sie lieben oft die Natur und Tiere. Viele Kinder sind auch feinfühlig und empathisch, nehmen Stimmungen sehr deutlich wahr und lieben schöne Farben und Formen. Sie sind jedoch auch laut, wild, schweifen ab und tun sich schwer, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden.
Dadurch nehmen sie aber auch oft Nuancen der Welt wahr, denen wir sonst gar keine Beachtung geschenkt hätten. Daher kann das Leben mit ADHS-Betroffenen sehr spannend, fröhlich und bereichernd sein. Aber eben auch anstrengend. Langweilig wird es auf jeden Fall nie.
Die Behandlung von ADHS
Vor jeder ADHS-Behandlung steht ein langer diagnostischer Weg. Auf diesem Weg und nach der Diagnose ist in jedem Fall wichtig, auch die positiven Seiten an ADHS zu sehen. Einen Menschen als Ganzes anzunehmen heißt in diesem Fall auch, die Impulsivität und Hyperaktivität zu verstehen, damit verständnisvoll umzugehen und sie in die richtigen Bahnen zu lenken. Leiden Betroffene (und Eltern) jedoch sehr darunter oder ist das Sozialleben beeinträchtigt, kann eine Behandlung das Leben oft maßgeblich erleichtern. Sie kann auch verhindern, dass ein negatives Selbstwertgefühl entsteht, dass Betroffene ausgegrenzt werden und dass so letztendlich weitere psychische Probleme entstehen.
Therapeutische Maßnahmen
Zu therapeutischen Maßnahmen können der Wechsel in eine geeigneteren Schule, Psychotherapien/Kognitive Therapien/Verhaltenstherapien und Fördermaßnahmen gehören, die dem Kind helfen, sich selbst und das schulische Lernen positiv zu erleben (siehe oben Prinzip der „shared attention“). Gute Möglichkeiten bietet manchmal auch ein Lerntraining durch Neurofeedback. Sind Kindergärten, Schulen oder Ausbildungsstätten auf die ADHS-Symptomatik eingerichtet, kann das große Erleichterung bringen. Neue Studien zeigen, dass sich auch Sport positiv auswirken kann, vor allem Bewegung in der Natur 4. Auch Tiertherapie kann zu Verbesserungen führen.
Medikamente
Das Thema der medikamentösen Behandlung wird in der Regel sehr heiß diskutiert. Je nach Schwere der Probleme sollten Betroffene hier mit einem Facharzt des Vertrauens sachlich alle individuellen Möglichkeiten ausdiskutieren. In schwereren Fällen sind Medikamente manchmal eine vorübergehende Möglichkeit, damit Betroffene wieder „normale“ und positive Interaktionen mit ihrer Umwelt erleben können 1). Als Mittel der ersten Wahl in der pharmakologischen Therapie gilt Methylphenidat, welches unter anderem unter dem Handelsnamen Ritalin erhältlich ist.
Obwohl in den letzten Jahren ein drastischer Anstieg bei der Anzahl der Verschreibungen dieses Wirkstoffes verzeichnet werden konnte, ist über die genaue Wirkungsweise noch relativ wenig bekannt. Besonders im Hinblick auf die Folgen einer Langzeittherapie, sowie deren möglichen Auswirkungen auf das Gehirn, gibt es zu diesem Zeitpunkt noch sehr wenig aussagekräftige Studien. Der Verbrauch des Wirkstoffs Methylphenidat stieg von 1993 bis 2011 um über 700 Prozent.
Von 2012 auf 2013 wurde erstmals ein rückläufiger Trend beobachtet: Der Verbrauch von Methylphenidat sank um 2 Prozent im Verhältnis zum Vorjahr. Allerdings ist das dem Umstand geschuldet, dass es inzwischen diverse andere Präparate gibt, die vergleichbare Wirkungen haben und ebenfalls verschrieben werden.
Ziel jeder Behandlung muss immer sein, dass die soziale und psychische Entwicklung unterstützt wird und Beziehungen zwischen Kindern und Eltern, zu Lehrern oder generell zu allen Menschen im Umfeld verbessert werden. Ziel ist auch, dass die Stärken und Begabungen erkannt werden können und so eine entsprechende Schul- und Berufsausbildung gewährleistet wird. Immerhin haben viele schillernde und bekannte Persönlichkeiten ADHS.
Darunter Adam Levine (Sänger von Maroon 5), Rapper Will.I.Am (von The Black Eyed Peas), Will Smith, Justin Timberlake, Kristen Stewart und Stefan Raab. Auch bei Einstein oder Walt Disney vermuten viele ADHS.
- Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft ADHS der Kinder- und Jugendärzte e.V.. 2007 (mit Update des Kapitels „Medikamentöse Therapie“ März 2014): ADHS bei Kindern und Jugendlichen (Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung[↩][↩][↩]
- Faraone SV, et al. Attention-deficit/hyperactivity disorder. Nat Rev Dis Primers. 2015 6;1:15020.[↩]
- https://www.gerald-huether.de/Mediathek/ADHS/Interview_Silke_Steffen.pdf[↩]
- Leithäuser R, Beneke R. Sport bei ADHS – Plan für Desaster oder verschenkte Ressource? Dtsch Z Sportmed. 2013; 64: 287-292.[↩]
Bildquellen
- ADHS – Was ist das?: shapovalphoto | shutterstock.com
Dr. Silvia Nold ist promovierte Biologin und hat eine abgeschlossene Ausbildung als pharmazeutisch-technische Assistentin mit Schwerpunkt Ernährungslehre. Sie war mehrere Jahre in der medizinischen Diagnostik tätig. Dr. Nold schreibt für LPZ Publishing and Consulting LLC über Themen der Biologie, Medizin und Ernährung.